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Was machst du eigentlich die ganze Zeit?

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„Sag mal, was machst du eigentlich den ganzen Tag?“,  hat mich neulich eine Freundin via Skype gefragt.
„Nun ja, ich laufe viel herum, lasse mich treiben.“
Unzufriedenes Grummeln am anderen Ende. „Aber so groß ist San Francisco jetzt auch wieder nicht. Die Stadt hat mit 800.000 Einwohnern weniger als Wien, habe ich gelesen.“
„Ja, aber sie ist flächenmäßig größer. Und hügelig. Und neulich bin ich rüber nach Berkeley gefahren, um mir auf dem Campus der Elite-Uni die Intelligenzbestien von heute und die Chefs von morgen anzuschauen. Viel Stress-Akne gibt’s dort, sag ich dir.“
Schweigen. Dann die Frage, auf die es eigentlich hinauslief.
„Gib’s zu! Du hast einen Typen. Was treibst du sonst die ganze Zeit, vor allem abends?“
„Da ist niemand.“
„Komm schon, mir kannst du’s ja sagen. Keine Dates? Kein tinder?“
„Doch, tinder-Verabredungen hab ich schon. Aber vielleicht einmal die Woche, nicht öfter.“

Bevor mir jetzt jemand Torschlusspanik oder Promiskuität attestiert: Ich suche keinen Ehemann, ich suche nur Anschluss. Und der sei mir durchaus gegönnt, denn nachdem ich in jeder Stadt eine Wohnung für mich alleine anmiete (ich bin zu alt und zu sehr Prinzessin für WG-Zimmer oder Backpacker-Herbergen), gestaltet sich das mit den neuen Bekanntschaften, egal welchen Geschlechts, schwierig. Außerdem erweisen sich die Herren der Schöpfung – auch wenn man mit 99 Prozent der Auswerwählten NICHT in den Sonnenuntergang oder sonst wohin entschwinden will – als dienbare Reiseführer. Kaum erwähne ich: „Ich bin auf Weltreise, was muss ich gesehen haben?“, werde ich mit Restauranttipps und „Hast du das schon …?“-Empfehlungen hofiert. Wahrscheinlich, weil das Gegenüber froh ist, irgendein Gesprächsthema zu haben und sich nicht erst durch „Hey, what’s up? How was your weekend?“-Konversationen quälen zu müssen.

 

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Was ich den ganzen Tag so mache? Clam-Chowder im Brotteig essen etwa … (eine Empfehlung von Brian).

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… oder einfach nur ziellos durch die Stadt flanieren, auf der Suche nach etwas, das das Hirn kitzelt.

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Auch eine gute Beschäftigungstherapie: Die Elite-Studenten in Berkeley beobachten (um dann zu beschließen: Ich bin froh, nicht mehr 20 zu sein).

Jedenfalls: In San Francisco hatte ich bisher mit Andrew, Mat und Brian das Vergnügen. Erstere beide habe ich persönlich getroffen. Brian hat in letzter Minute die Reißleine gezogen und sich nach fünfjähriger Dating-Abstinenz dazu entscheiden, weiter abstinent zu bleiben. Aber zumindest weiß ich von ihm, dass Mount Diablo den unverbautesten Blick auf San Francisco bietet und man an klaren Tagen von dort sogar bis zur Sierra Nevada und dem Yosemite National Park sehen kann. Von Mat und Brian habe ich wiederum gelernt, die Stadt als das zu sehen, was sie ist: eine Ansammlung von Paralleluniversen, die alle nebeneinander existieren, ohne dass man sich in die Quere kommt. Aber der Reihe nach.

Andrew, die Google-Busse und die düstere Seite der Golden Gate Bridge

Andrew war der erste: 35, symmetrische Gesichtszüge, perfekte Manieren. Ein schöner, weil gepflegter Mann – und ein ehemaliger Rockstar. Zumindest konnte er früher mal von der Musik leben und ist mit seiner Band durch die Welt getourt. Heute organisiert er Fotoproduktionen und kalmiert dabei exaltierte Art Diktatoren, die meinen, Strandtücher und Kuchenteller am Strand von Hawaii fotografieren zu müssen, weil sonst die ästhetische Welt oder ihr Ego zugrunde geht.

„Welche Art von Musik hast du gemacht?“
„Melodischen Rock. Das, was heute kaum einer mehr hört,“ hat er gelacht.
Und wir haben viel gelacht an diesem Abend. Zum einen, weil Andrew mein aktuelles Dilemma – nämlich nirgendwo richtig zu Hause zu sein – durch seine Tour-Erfahrung nachvollziehen konnte. Zum anderen, weil er San Francisco genauso kritisch sieht wie ich. „Was ist so schwierig daran in dieser Stadt, höflich zu sein?“, echauffierte er sich. „Manchmal lächele ich auf der Straße völlig Fremde an, nur um zu sehen, was passiert.“
„Und, was passiert?“
„Die Leute sind richtiggehend verdattert. Aber nach ein paar Momenten lächelt zumindest ein Großteil zurück“.

Drei Jahre hat es gedauert, bis er – ein gebürtiger Ostküstler – mit der Stadt zurechtkam. „Die Bay Area hat sich verändert in dieser Zeit“, erzählte er. „Als ich hierher kam, war alles noch entspannter, es gab eine Mittelschicht. Dann sind die Mietpreise explodiert – und damit auch die Obdachlosen-Zahlen. Es ist Wahnsinn, wie groß der Unterscheid zwischen Arm und Reich geworden ist. Hast du die Google-Busse gesehen, die hier in der Früh durch die Stadt fahren und ihre Mitarbeiter einsammeln, um sie nach Palo Alto zu bringen?“
„Ja. Manchmal wünschte ich, ich wär auch ein Technik-Nerd, würde in so einem Bus sitzen und Millionen scheffeln.“
„Echt? Ich möchte um kein Geld der Welt da drin sitzen.“ Grinsender Nachsatz. „Aber San Francisco wehrt sich eh gegen die Gentrifizierung. Es gibt viele Proteste gegen die Google-Busse. Da spürt man dann doch noch den alten Geist der Stadt.“

Irgendwann kamen wir dann auf das Thema Sightseeing. Und natürlich auf die Golden Gate Bridge. „Hast du den Dokumentarfilm The Bridge gesehen?“, hat Andrew gefragt. „Über die Selbstmörder in San Francisco? Die haben da mit echtem Videomaterial von der Brückenverwaltung gearbeitet. Man sieht tatsächlich Leute in den Tod springen.“
„Nie gesehen,“ meinte ich. „Aber ich hab die installierten Krisentelefone dort bemerkt, weil sich angeblich jede Woche mindestens ein Mensch von der Golden Gate Bridge stürzt.“
„Die Krisentelefone bräuchte es gar nicht“, sagte Andrew daraufhin.
„Was meinst du damit? Ich hab in der Zeitung gelesen, dass die Polizei rund 100 Menschen pro Jahr davon abhalten kann, wirklich zu springen.“
„Die Krisentelefone bräuchte es gar nicht, wenn die Passanten einfach nur mit offenen Augen durchs Leben gehen würden.“ 

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Die Krisentelefone auf der Golden Gate Bridge. Auf jeder Seite der Brücke sind mehrere SOS-Apparate installiert.

Und dann erzählte er mir, was die Doku wirklich aufzeigt: Kaum ein Selbstmörder steigt entschlossen aufs Geländer. Viele wandern vorher verzweifelt und oft stundenlang auf der Brücke herum, weinen, raufen sich die Haare, starren aufs Wasser – während hunderte Passanten gleichgültig an ihren vorüberziehen.

„Das Ganze passiert immer am helllichten Tag, die wenigsten springen nachts. Ein Überlebender hat erzählt, dass ihn kurz bevor er übers Geländer geklettert ist, sogar von einer Touristin gebeten wurde, er möge ein Foto von ihr und der Skyline machen – und das obwohl er total verheult war und offensichtlich neben sich stand.“ 

 

https://youtube.com/watch?v=jhIzXFsYZQc

Die Geschichte hat mich traurig gemacht. Andrew auch. Als Resultat habe ich die Bar halb leergetrunken und mich am nächsten Morgen selbst richtig tot gefühlt.

„Danke für den netten Abend. Das müssen wir wiederholen, bis auf das viele Trinken,“ habe ich Andrew eine Nachricht geschrieben. Und dann versucht, mir einen Liter Wasser einzuflössen und mit Hilfe einer Tonerde-Maske das verquollene Gesicht im Spiegel wieder erkennbar zu machen.

„Absolut,“ kam es zurück. „Ich sollte vielleicht auch auf Weltreise gehen. Dann kann ich trinken, ohne am nächsten Tag arbeiten zu müssen …“

Und so haben wir beide was gelernt. Ich geh ab sofort mit offenen Augen und sensibleren Antennen durch San Francisco. Und Andy überlegt sich, seine Art Diktatoren selbst ihrem kleinen Ego zu überlassen und wieder mehr Musik zu machen.

 

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Was ich den die ganze Zeit so mache? Manchmal sind’s nur Gesichtsmasken, um nach einer langen Nacht wieder wie ein Mensch auszusehen.

Mat und das „alternative“ San Francisco

Mit Mat habe ich mich in einer entzückenden französischen Weinbar verabredet. Vorab wusste ich nur: Er ist 53, gebürtiger Brite und macht irgendwas mit IT. Was man eigentlich über Mat wissen muss, ist: Der Mann hat keine Zeit zu verlieren. So informierte er mich in den ersten fünf Minuten darüber, dass er sich vorsorglich den nächsten Vormittag freigenommen habe, weil man ja nie wissen könne, wie so ein tinder-Date endet. Er teilte mit, dass er an den Wochenenden gerne auf Raves und MDMA setzt. Dass er seine älteste Tochter allein großgezogen hat („Es war hart, aber sicher nicht so hart wie für eine alleinerziehende Mutter. Alleinerziehende Väter erfahren viel mehr Unterstützung von Kollegen und verdienen obendrein besser“.) Und dass er durch seine frühe Familiengründung nie jung sein konnte, als er jung war. Also hat er sich kürzlich von seinem Arzt was spritzen lassen, um sein Hormonlevel wieder auf das eines 30-Jährigen zu bringen.

Dann ein stolzes Grinsen. „Hast du’s mitgekriegt? Das Paar am Nebentisch belauscht uns schon die ganze Zeit.“
„Bei dem was du da in kürzester Zeit alles auftischst, würde ich das auch.“

Nicht falsch verstehen: Ich selbst bin das, was die Amis einen „oversharer“ nennen. Allein dieser Blog ist viel persönlicher geworden, als ich ihn ursprünglich angedacht habe. Aber wenn ich die Königin des Oversharing bin, habe ich mit Mat den absoluten Kaiser der Mitteilungsfreude kennengelernt. Denn in diesem Tempo ging es munter weiter. Binnen 30 Minuten kannte ich seine komplette Lebensgeschichte, inklusive zweier Scheidungen und einer finanziell knappen Zeit am Rande der Obdachlosigkeit.

„Du sagst ja gar nichts.“
„Ich komme ja nicht zu Wort, Mat.“
„Okay, dann erzähl du mal. Was willst du in San Francisco sehen? Was kann ich dir zeigen?“
„Zeig mir Plätze, die noch nicht im Reiseführer stehen.“
„Da würde mir schon was einfallen.“
„Nicht dein Schlafzimmer, Mat! Vergiss es. Das wird nichts.“
„Okay, kapiert.“
„Wirklich?“
„Ja. Ewig schade drum.“
Kurze Pause.
„Kennst du The San Francisco Armory im Mission District?“
„Nein, nie gehört.“
„Das Areal gehört einem Typen, der eine Pornofirma …“
„Warum wundert mich jetzt nicht, dass du den kennst?“
„Ich kenne viele Leute im alternativen San Francisco.“
„Alternativ sind für mich Dread Locks, Wallekleider und Menthol-Zigaretten.“
„Alternativ ist für mich alles, was außerhalb der sogenannten Norm ist. BDSM, zum Beispiel. Bondage-Spiele.“
„Okay, also was ist jetzt mit dem Armory-Typen?!“

„Dem Kerl gehört eine erfolgreiche Pornofilm-Produktion und die Website kink.com, falls du davon schon gehört hast. Der hat wirklich viel Kohle damit gescheffelt. Jedenfalls: Als die Stadt im Jahr 2006 das historische Gebäude, das unter Denkmalschutz steht, aus Geldnot verkaufen musste, machte er das Rennen. 14,5 Millionen Dollar hat er für The Armory, das einen ganzen Straßenblock einnimmt, bezahlt. Als publik wurde, wer der Käufer ist, gab es natürlich Proteste. Aber die haben sich mittlerweile gelegt. Heute ist unter anderem einen Bar darin beherbergt.“

„Eine Bar, ja? Trägt man in dieser Bar auch Kleidung?“
„Durchaus. Aber es gibt auch Räumlichkeiten, wo du das nicht musst.“
„Mat!“
„Okay, ich sag ja nur. Ich würde sie dir zeigen. Du kannst auch Führungen durch die Pornofilm-Studios machen. Ich kenne den Besitzer, kein Problem.“
„Danke, aber ich glaube, ich passe.“
„Die bist auf Weltreise, Mädchen. Du solltest etwas ausprobieren. Grenzen überschreiten, nicht nur geografisch. Du sitzt viel zu steif da, deine Körpersprache spricht Bände.“

Er hatte Recht mit der Körpersprache. Meine überschlagenen Beine waren von ihm weggedreht, meine Oberkörper ging leicht zurück.

„Du bist viel zu wachsam und misstrauisch. Das sehe ich dir an.“
„Du musst wachsam und misstrauisch an, wenn du alleine auf Reisen bist. Alles andere wäre fahrlässig.“
„Stimmt. Aber ich bin einer von den Guten.“
„Das sagen alle“.
„Noch ein Drink?“
„Nein, danke. Ich bin müde, ich gehe nach Hause.“

Und so war es dann auch. Ich bin nach Hause spaziert, Mat hat mich ein paar Blocks begleitet und ist dann in ein Taxi gesprungen.
„Ich mach nächsten Freitag eine Party, du solltest kommen“, hat er mir beim Einsteigen noch zugerufen.
„Ist das eine DIESER Parties?“
„Wenn du meinst, ob man für diese Parties nette Unterwäsche tragen sollte: Ja. Aber man sollte immer nette Unterwäsche tragen, das kann nie schaden – hat schon meine Großmutter gesagt.“
„Gute Nacht, Mat!“
Und unter schallendem Gelächter des Taxifahrers verschwand er in die Nacht.

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