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Minus 25 Jahre in zwei Stunden

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San Franciscos Attraktionen – komplett aus Zahnstochern und Alleskleber. Scott Weaver hat rund 30 Jahre daran gebaut und stellt sein Schlachtschiff, durch das Tischtennisbälle rollen, im Exploratorium aus.

In der Schule gab es drei Lehrfächer, die mein Hirn sofort außer Gefecht gesetzt haben: Mathematik, Physik und Chemie. Keine Ahnung, was es damit auf sich hat, aber Zahlen lösen bei mir ein geistiges Vakuum aus. Ich sehe sie zwar, aber ich kann sie nicht verstehen. Kommen dann auch noch abstrakte Begriffe hinzu, also Dinge, die man nicht freiem Auge erkennen kann – Atome, Neutronen, Elektronen, Schwerkraft – ist’s völlig vorbei. Ich sitze da wie Bart Simpson und höre nur noch bla, bla, bla (mein Ex-Chef hat irgendwann akzeptiert, dass das nichts mehr wird und mir komplizierte Excel Tabellen vorausschauend abgenommen).

Insofern: Welcher Teufel mich geritten hat, ausgerechnet ins Exploratorium von San Francisco zu spazieren, ein Museum, in dem es um physikalische Phänomene und Naturwissenschaften geht – ich weiß es nicht. Noch dazu, wo die Einrichtung großteils ein Kindermuseum ist. Soll heißen: Hunderte  schreiende, rotzende und nervige Bälger, die alles antatschen und nicht zuhören wollen. Aber ich schätze, ich war einfach zu erfroren vom draußen Herumlaufen. Und das Exploratorium versprach geheizte Räumlichkeiten und eine saubere Toilette.

Da stand ich nun und fühlte mich beim Anblick der Pendel und Zahnräder wie damals mit 12 Jahren, als ich unter dem Gelächter pubertierender Schwachmatiker im Physiksaal meiner Schule eine Formel ableiten sollte. Ich fühlte mich überfordert – und ziemlich dumm.
„Auch schon wurscht, dann werden die 29 Dollar Eintrittsgebühr einfach unter teuerste Washroom-Gebühr der Welt verbucht,“ dachte ich und wanderte lustlos an den Konstrukten vorbei … bis ich zur Bewegtbild-Abteilung kam. „Macht ein Video von euch selbst und studiert eure Mimik und kleinste Muskelbewegungen des Gesichts in Zeitlupe“, war da zu lesen.
Hmmm. Na ja, wenn ich schon mal da war … Ein Selfie auf wissenschaftlich kriegt man auch nicht alle Tage.

Also hab ich das gemacht, was man im Englischen „blow a raspberry“ nennt. Ich hab meine Lippen geschürzt und dann verächtlich geschnaubt. Die Idee kam nicht von mir, das sah die Anleitung so vor. Zwei Sekunden später war ich überlebensgroß auf den Bildschirm projiziert und dermaßen entschleunigt, dass ich dachte, der Rechner habe sich aufgehängt. Doch plötzlich: Das Kinn, das sich von unten nach oben zu kräuseln beginnt. Minimalste Bewegungen der Unterlippe, die die Oberlippe hochschieben. Die Nase, die nach unten drückt. Faszinierend, nicht nur für narzisstisch angehauchte Persönlichkeiten wie mich. Ab diesem Moment war ich angefixt. Ich hab zwar noch immer einen Großteil der Stationen ausgelassen (Wieviel kann man einem Hirn in zwei Stunden zumuten? Eben!), bin aber zumindest bei jenen Experimenten, die für den Alltag nachvollziehbar waren, stehen geblieben. Keine Kinder in Sichtweite zu haben war auch ein Kriterium, ich geb’s zu.

Erfahren hab ich schließlich, dass die feinen Drähte, die etwa einen Toaster erhitzen, mit nur einem kurzen Atemhauch abgekühlt werden können. Einmal draufgeblasen – und schon sind die orange glühenden 180 Grad Drähte wieder dunkel. Ich habe gelernt, was passiert, wenn man mit den bloßen Händen beidseitig ein Metallgitter reibt – man bekommt durch die Nervenstimulation unglaubliche „Samthände“, ein Phänomen, dass die Wissenschaft bis heute nicht ganz erklären kann.

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Die Toaster-Drähte. Ein Atemhauch und nix glüht mehr. Wär auch als Bild in meinem Wohnzimmer hübsch.

An einer anderen Station wühlte ich (mit Plastikhandschuhen) im Kompost, um mir die Hände an der Hitze, die zersetzende Bakterien und Pilze absondern, zu wärmen. Nebenbei wurden mir Lauscher wie ein Luchs attestiert, denn beim Hörtest mit 12 Lautsprechern konnte ich jeden Ton richtig zuordnen. Schräg war nur, mich selbst in einem doppelten Spiegel anzuschauen. Zwei rechteckig zueinander stehende Flächen, die das Spiegelbild vom Spiegelbild zeigen.

 

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Und zum Drüberstreuen ein kurzer Hörtest. Aus welchem der 12 Lautsprecher kommt ein Ton?

„Was siehst du?“, fragte mich einer der jungen Nerds, die im Museum arbeiten.
„Ich sehe mich, aber ich sehe trotzdem irgendwie fremd aus. Die Augen sind anders“, antwortete ich.
Grinsen seinerseits.
„Lass mich nicht dumm sterben, das bin ich in der Schule schon. Erklär mir das“, raunte ich
„Deine Reaktion ist ganz natürlich. Du kennst nur dein normales Spiegelbild – aber das zeigt dich eben spiegelverkehrt und nicht so wie dich andere sehen. Der doppelte Spiegel zeigt die Realität.“
„Aber ein Foto käme aufs Selbe raus, oder?“
„Ja, aber da verfremden die Lichtverhältnisse manchmal die Konturen, man hat durch den Blitz oder die Sonne oft die Augen zu. Hier ist das nicht der Fall.“
„Sind meine Augen wirklich so komisch?“
„Definiere komisch.“
„Ja, auch wieder wahr.“

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Getting a glimpse of eternity.

Kurz vorm Ausgang dann noch ein Exponat, das mich erschreckt zur Seite weichen ließ. Eine tote Ratte hinter Glas. Dazu muss man wissen: Ich bin wie eine dieser Frauen aus den Tom-und-Jerry-Cartoons, kaum ist ein Nager zu sehen, springe ich schreiend auf einen Sessel oder Fenstersims und schließe mit dem Leben ab. Der lange Schwanz, die flitzenden Bewegungen, diese ekelhaften kleinen Füße, das Fell. Ein Albtraum. Lieber schau ich mir drei mal hintereinander Chucky, die Mörperpuppe an.
„Keine Sorge, die sind tot“, lachte ein umstehender Museumswärter.
„Was heißt: DIE sind tot? Ich hab nur ein Viech gesehen.“
„Es liegen vier hier drin. Ich hab sie selbst reingetan. Die jüngste erst vor zwei Tagen.“
Dann winkte er mich näher heran.
Und da lagen sie: Vier tote Ratten, ungefähr tausend wuselnde Käfer und nochmal so viele Larven.
Ratte 1 war vor 2 Tagen geliefert worden und sah noch recht frisch aus, die Käfer hätten sich nur am Kopf und am Hinterteil zu schaffen gemacht. Ratte 2 – seit einer Woche ausgestellt – wär schon etwas deflationiert, so, als hätte man aus einem Ballon die Luft rausgelassen. Und das Fell wirkte merkwürdig löchrig. Ratte 3 – vier Wochen tot – war nur noch skelettartig vorhanden. Und Ratte 5 – seit 5 Wochen im Nager-Nirvana– nicht mal das.
„Der Kreislauf des Lebens“, philosophierte der Wärter neben mir. „Fünf Wochen und schon ist man von dieser Welt verschwunden.“

 

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Bye, bye, Baby!

Mit diesem Satz im Ohr bin ich schließlich wieder raus, an die frische Luft. Und dachte: Die Ratten mögen zwar tot sein, ich bin aber da heute mindestens um 25 Jahre verjüngt raus. Weil ich Sachen begriffen hab, die mir manche Lehrer schon mit 12 schon begreiflich machen wollte. Und dann hab ich das gemacht, was Jugendliche machen, wenn sie stolz auf sich selbst sind. Ich hab mich selbst belohnt, mir im Museumshop gefriergetrocknete Astronauten-Eiscreme für 4,50 Dollar gekauft und mich gefreut wie eine Schneekönigin, als die Kugeln im Mund tatsächlich wie Eiscreme schmeckten – nur halt ohne Hirnfrost.

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Astronauten-Eiscreme! In gefriergetrockneter Kugelform! Mit Erdbeergeschmack! Dass da eine Ladung Chemie drin ist – soll sein. Isst man ja auch nicht jeden Tag.

 

 

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